Leseprobe aus "Entwurzelte Schatten"

 

Wenn man etwas haben will, das man noch nie gehabt hat, so muss man etwas tun, was man noch nie getan hat. An diese Worte seiner Großmutter dachte Selahattin Barzani, als er schlaftrunken zur Toilette schlurfte. Sie war es gewesen, die ihn überredet hatte, aus Syrien wegzugehen. Sie wollte nach Sohn und Schwiegertochter nicht auch noch den Enkel an den Krieg verlieren. Auf seiner strapaziösen Flucht über die Balkanroute trieb ihn dieses arabische Sprichwort immer wieder an. Es war auch jetzt noch sein Mantra, das seine Hoffnung auf ein Leben in Frieden und Freiheit nährte.

Die grünweißen Leuchtschilder, die die Fluchtwege in der Gemeinschaftsunterkunft kennzeichneten, tauchten den Flur in ein gespenstisches Licht. Da wo er herkam, mieden die Menschen dunkle Flure, besonders in öffentlichen Gebäuden. Sie mieden auch Turnhallen, weil dort die Schergen des Assad-Regimes und die IS-Kämpfer mit Vorliebe ihre Folterzentren einrichteten. Doch hier, in dieser alten Sporthalle, brauchte sich niemand zu fürchten. Auch wenn die Schatten der Vergangenheit ihn selbst hier in seinen Träumen heimsuchten.

Nach einer kurzen Morgentoilette schlüpfte er in die Laufschuhe, die ihm seine Betreuerin besorgt hatte. Sorgfältig band er sie mit einer Doppelschleife zu. Dabei huschte ein Lächeln über sein junges Gesicht. Selahattin liebte es, früh aufzustehen, vor den anderen wach zu sein, um seinen Gedanken nachhängen zu können. Beinahe lautlos schlüpfte er durch die Eingangstür ins Freie. Sich geräuschlos zu bewegen, hatte er in seinem früheren Leben gelernt, denn das war im Krieg wichtig, um zu überleben. Hier dagegen war es nur ein Zeichen von Respekt den anderen im Schlafsaal gegenüber. Immerhin waren in dieser ehemaligen Turnhalle unterschiedliche Gruppen untergebracht, mit denen das Zusammenleben nicht immer einfach war. Er hoffte, dieser Enge bald entfliehen zu können, denn er war nur übergangsweise hier, wie ihm seine Betreuerin Gertrud erzählt hatte.

 

Er holte tief Luft. Über Nacht hatte der Winter die Dächer der alten Stadt mit Schnee bedeckt, sodass sie in der Dämmerung wie mit Glitzerstaub überzogen schimmerten. Er mochte diesen Ort, obwohl ihn das Schicksal erst vor fünf Wochen hierher verschlagen hatte. Sela, wie ihn seine Betreuerin Gertrud nannte, begann wie jeden Tag seinen morgendlichen Lauf durch die Gassen der Altstadt. Auf dem zentralen Hauptplatz erwachte um diese Uhrzeit trotz des erneut einsetzenden Schneetreibens langsam das Leben. Ohne Argwohn überquerte er den noch im Zwielicht liegenden Platz. In seiner Heimatstadt Kobane wäre das Selbstmord gewesen. Doch hier war es absolut sicher.

Es gab keine Scharfschützen, die hinter den Fenstern der alten Bürgerhäuser auf ihn anlegten. Es gab keine Straßensperren an den Zugängen zum Platz. Nur die kleine Fußgängerzone im Norden des dreieckigen Platzes gebot dem Autoverkehr Einhalt. Es gab keine Milizionäre, die Passierscheine gegen teures Geld verkauften. Nur städtische Parkwächter, die sorglos geparkte Fahrzeuge mit Strafzetteln belegten. Es gab keine islamistischen Kämpfer, die einen jungen Mann zwangsrekrutieren konnten. Hier war es friedlich.

 

Leichtfüßig durchquerte Sela das kleine Klösterl-Viertel und verließ Augenblicke später die Stadt in Richtung Süden. Sein Ziel war der Wildpark.

Der Park lag eingekeilt zwischen dem Gebirgsfluss Lech und einem Steilhang auf der Ostseite. Sela ließ seinen Blick über den nebelverhangenen Fluss zu seiner Rechten schweifen.

Langsam breitete sich das Morgenlicht aus und die Farben kehrten zurück, verdrängten die Schatten der Nacht. Jetzt war der Fluss wieder grün und nicht schwarz. Guten Mutes lief er an den Wildschweingehegen vorbei, doch die Schwarzkittel nahmen keinerlei Notiz von ihm, genauso wie der alte Mann mit seinem Hund, den er überholte. Kurze Zeit später passierte er die futuristische Gaststätte, in der er mit Gertrud vor nicht allzu langer Zeit Tee getrunken hatte.

 

Er erreichte das verschlafene Pitzling und trabte locker über die Seestraße, bis er beim Kriegerdenkmal nach links abbog in die Pöringer Straße hinauf zur Schlosskirche. Nach einem leichten Anstieg erreichte er das alte Gemäuer, das ihn immer an eine mittelalterliche Kreuzfahrerburg erinnerte. Vor dem burgähnlichen Gebäude bog er nach rechts ab in einen Waldweg, wo er an einem geparkten, grauen Opel Astra vorbeikam. Auf dem Armaturenbrett bemerkte er eine Elvis-Figur, die anscheinend aufgeklebt war. Der anbrechende Tag erleichterte mittlerweile die Orientierung. Kurz nach dem Fahrzeug musste er nach links auf eine Autostraße abbiegen und gleich darauf wieder in einen Feldweg. Nun war er nicht mehr weit entfernt von der Teufelsküche.

»Devil´s kitchen«, hatte Gertrud ihm erklärt. »Teufelsküche, weil der Teufel, the devil, dort haust.«

»Woher weiß man das?«, war seine verblüffte Frage gewesen.

»Das sind sehr alte Sagen und Legenden«, erklärte ihm seine Betreuerin daraufhin. »Es heißt, dass der Teufel einem Mann den Kopf abgeschlagen hat, weil der Ehebruch begangen hat.«

Sela hatte sie bleich angestarrt. Auch in seinem Glauben gab es den Iblis, den Schaitan oder Satan, der die Menschen vom rechten Weg abbringen wollte. Sela kannte den Teufel aus seinem eigenen Leben nur zu gut und wusste, wie es sich anfühlte, von ihm versucht zu werden. Ihm die Stirn zu bieten, war eine übermächtige Aufgabe, an der man leicht scheitern konnte. Denn der Schaitan zeigte sich nicht mit Hörnern, so wie er oft abgebildet wurde. Meist kam er in einer höchst gefälligen menschlichen Gestalt daher, der eine böse Seele innewohnte.

 

Die Sage der Teufelsküche erinnerte ihn regelmäßig beim Joggen an diesen epischen Kampf mit der Versuchung, und dabei schlug sein Herz immer schneller. Heute schien es ihm, als hätte sich das Licht des anbrechenden Tages noch nicht in die Teufelsschlucht gewagt. So, als wüsste es, welche Schatten dort ihr Unwesen trieben. Mit jedem Schritt, der ihn näher an die Brücke über die Teufelsküche brachte, wurde er unruhiger. Mit jeder Faser seines Körpers hatte er das Gefühl, dem Bösen entgegenzulaufen. Doch er konnte nicht zurück; er ahnte, dass der Schaitan ihn von Neuem herausfordern würde.