Leseprobe aus "Der Baumeister von Landsberg" 

Als er die Tür hinter sich zuzog, sperrte er den Schneesturm aus. Eine heimelige Stille umfing ihn. Er sah sich um, aber niemand war zu sehen. Am anderen Ende des kleinen Gotteshauses befanden sich drei Altäre. Der Hauptaltar in der Mitte war der prächtigste, der den Eindringling in seinen Bann zog.

»Der Altar der Heiligen 11.000 Jungfrauen«, sagte er leise zu sich selbst. Wie schon häufiger drängte sich die Frage auf, woher der Name kam. »11.000 Jungfrauen«, wiederholte er tonlos, verwarf den Gedanken, schloss die Augen. Er war im Begriff, eine schwere Sünde zu begehen und wollte sich gar nicht ausmalen, was das für sein Seelenheil bedeutete. Viele Jahre Fegefeuer! Eine Träne rann über seine Wange. Beinahe andächtig streifte er seine Kapuze vom Kopf. Auf dem Altar brannte eine einzige Kerze, deren Licht sich auf einem goldenen Messkelch daneben spiegelte. Neugierde verdrängte die Skrupel für einen Augenblick, als er hastig den Innenraum durchquerte. Vor dem Kelch blieb er stehen. Wie schön er aussah. Doch deshalb war er nicht gekommen. Sein Blick fand schließlich das Objekt seiner Begierde: den Opferstock!

Wie viele Silberpfennige mochten wohl drinnen sein? Genug, um seine Mutter und ihn durch den Winter zu bringen? Wut schnürte ihm die Kehle zu, wenn er daran dachte, wie übel die elenden Betbrüder seiner Familie mitgespielt hatten. Da war es nur gerecht, sich einen Teil des gestohlenen Geldes zurückzuholen. Gott hatte Verständnis dafür! Dessen war er sich sicher. Er stand ganz still, nur sein Brustkorb, der sich in schneller Folge hob und senkte, verriet seine Aufregung. Er zwang sich zur Ruhe. Mit zitternden Fingern untersuchte er den Opferstock, den geschmiedete Eisenreifen zusammenhielten.

 

Wäre er nicht ein gottesfürchtiger Mensch, Ignaz Pfeifer hätte aus tiefstem Herzen geflucht. Nach dem Nachtmahl musste der Pfarrer der Heilig-Geist-Kirche noch einmal seine warme Stube verlassen. Und das an Epiphanie, dem Fest der Heiligen Drei Könige. Er hatte vergessen, die Kirche abzuschließen. Pfeifer rang innerlich die Hände. Vor zwei Stunden erst war er im Pfarrhof in der Judengasse gewesen. Hatte sich Frostbeulen geholt bei diesem Sauwetter. Denn der Stadtpfarrer Karl Sachs hatte darauf bestanden, dass spätestens zur siebten Stunde nach Mittag die reiche Dreikönigskollekte bei ihm abzuliefern sei. Normalerweise zog es Pfarrer Pfeifer vor, zusammen mit seinem Kaplan im nebenan liegenden Heilig-Geist-Spital zu essen. Freiwillig ging er praktisch nie ins Pfarrhaus.

Wehmut überkam ihn in dem Moment, als er die Summe von 147 Silberpfennigen und 32 Hellern an diesen aufgeblasenen Karl Sachs übergab. Zu schade, um sie diesem verschwenderischen Abt auszuhändigen. Denn genau das würde der Stadtpfarrer morgen in der Frühe tun, um sich bei ihm einzuschmeicheln.

 

Der Einbrecher zog einen Eisenstab unter seinem Umhang hervor, den er vorsichtig am Vorhängeschloss des Opferstockes ansetzte. Er holte tief Luft. Nach einem weiteren Blick in die Runde zog er mit aller Kraft an seinem Hebel, um es aufzubrechen. Aber das massive Schloss erwies sich als robuster, als erwartet. Mehrmals setzte er das Eisen an, doch jedes Mal rutschte er ab. Nach nur wenigen Versuchen hatte er einen Bluterguss am Handballen. War der Dieb anfangs noch bemüht, leise zu sein, so vergaß er diesen Vorsatz bald. Immer verzweifelter versuchte er, den Opferstock zu öffnen und achtete längst nicht mehr auf die Welt um ihn herum.

 

Pfarrer Ignaz Pfeifer eilte hinüber zur Heilig-Geist-Kirche. Nicht nur, dass er die Tür verschließen musste, er war sich auch nicht mehr sicher, ob er den Messkelch weggeschlossen hatte. Der war zwar nur aus Messing, aber trotzdem das wertvollste Stück im Kirchenschatz. Pfeifer schwankte zwischen Sorge um den Kelch und Ärger über seine eigene Vergesslichkeit. Als er sich der Seitenpforte vom Spital her näherte, hörte er ein ungewöhnliches Geräusch, und meinte auch Fluchen zu hören. Offenbar war noch jemand in der Kirche. Wer konnte das sein? Vorsichtig legte er sein Ohr an die Türe und lauschte. Da! Jetzt hörte er es deutlich. Irgendwer machte sich in der Nähe des Altars zu schaffen. Behutsam drückte er die Klinke herunter, um die Tür einen Spalt aufzumachen. Gott sei Dank quietschte sie nicht.

Er schob seinen Kopf hindurch. Bis auf eine Kerze auf dem Hauptaltar war es dunkel im Innenraum. Das Mondlicht drang durch die Fenster der Apsis herein und warf einen gespenstischen Schatten auf eine Person vorne am Altar. Ignaz Pfeifer überlegte, Hilfe zu holen. Doch wo sollte er um diese Zeit einen Büttel finden? Nur das Baiertor oben am Berg und das Lechtor unten am Fluss waren mit Wachen besetzt. In der Stadt selbst lief an so einem Winterabend nur der alte Nachtwächter herum. Bis er den auftreiben konnte, war der Dieb verschwunden.

Ignaz Pfeifer entschloss sich zum Handeln. Im Stillen betete er ein Ave-Maria und schlüpfte vollends durch die halb geöffnete Türe. Er holte tief Luft, bevor er mit pochendem Herzen, aber festen Schrittes auf den Eindringling zuging.

Der Dieb war so mit dem Aufbrechen des Opferstocks beschäftigt, dass er ihn nicht bemerkte, bis Pfeifer unmittelbar hinter ihm stand.

Der zögerte, packte schließlich den Dieb am Arm und drehte ihn forsch herum. Überrascht rief er: »Du?« Einen Atemzug später schimpfte er: »Wer hat dir denn ins Hirn geschissen?« Dann holte er aus und gab dem Einbrecher eine schallende Ohrfeige. »Weiß eigentlich ...?«

Weiter kam er nicht. Ignaz Pfeifer gab plötzlich ein unterdrücktes, kehliges Stöhnen von sich. Er griff sich an den Hals. Etwas Kaltes steckte in seinem Kehlkopf.